Zwischen Klarheit und Geduld: Der Preis des Verstehens
Klarheit und Geduld schließen sich nicht aus. Sie sind zwei Seiten derselben Reife: die eine sieht, die andere hält aus.
Erkennen, Wissen und Schweigen
Ich erinnere mich gut: Es gibt eine nicht mehr zählbare Anzahl an Meetings, in denen es mir so ergangen ist.
Im Raum sitzen wieder einmal zu viele Personen, zehn an der Zahl. Es geht um ein technisches Thema – und wie immer ergreifen die gleichen Leute das Wort.
Ein Monolog beginnt. Ich rolle innerlich mit den Augen, lasse es über mich ergehen, und wir verlassen das Meeting ohne eine sinnvolle Entscheidung.
Mir fehlt die Kraft und der Mut, noch mit einzusteigen. Zu oft habe ich erlebt, dass Einspruch nur Energie kostet. Später stellt sich heraus, dass meine inneren Bedenken berechtigt waren – doch mittlerweile äußere ich sie kaum noch.
Zwischen Gewissheit und Ohnmacht
Zwischen den Meetings spüre ich die Last auf meinen Schultern, den Zug im Rücken, der sich langsam festbeißt. Ein Teil in mir fühlt sich sicher: Ich hatte recht.
Der andere flüstert: Und wenn nicht?
Es ist nicht Unwissenheit, die mich hemmt, sondern die ständige Prüfung meiner eigenen Position. Ich beobachte, wie andere überzeugt auftreten, während ich abwäge. Und manchmal frage ich mich, ob das Zögern nicht klüger ist als die Gewissheit – und doch weniger sichtbar.
So bleibt mein Wissen oft ungenutzt – als stille Einsicht, nicht als Beitrag.
Mein Imposter und der Dunning-Krüger über mir
In technischen Diskussionen begegnet mir das regelmäßig: Menschen, die mit großer Sicherheit auftreten, aber nur einen Teil des Problems überblicken – gerade in der Chefetage oder im mittleren Management, wo Entschlossenheit oft überzeugender wirkt als Einsicht und Verantwortung dicht neben Unsicherheit liegt.
Sie argumentieren mit klaren Worten und festen Überzeugungen – und genau das verschafft ihnen Gehör.
Ich dagegen denke in Varianten, Unsicherheiten, Abhängigkeiten.
Das klingt selten entschlossen, eher nach „es kommt darauf an“.
Hier treffen zwei Verzerrungen aufeinander:
Die einen überschätzen sich, weil sie die Komplexität nicht sehen.
Ich unterschätze mich, weil ich sie zu deutlich sehe.
Beide verändern das Bild – nur in entgegengesetzte Richtungen.
Im Alltag führt das zu einer paradoxen Dynamik:
Wer weniger versteht, wirkt oft entschlossener.
Wer mehr versteht, formuliert vorsichtiger – und wirkt dadurch weniger kompetent.
In Organisationen, in denen Auftreten oft stärker bewertet wird als Einsichtstiefe, entsteht so eine Schieflage, die stilles Wissen an den Rand drängt.
Ich habe gelernt, das nicht als persönliches Defizit zu lesen, sondern als Systemmuster:
Selbstsicherheit wird sichtbarer honoriert als differenziertes Denken.
Und mein Imposter reagiert darauf – nicht, weil er recht hat, sondern weil er auf ein Umfeld antwortet, das Lautstärke mit Klarheit verwechselt.
Balance und leise Autorität
Der Imposter verschwindet nicht, nur weil man ihn verstanden hat. Er bleibt eine innere Stimme, die prüft, warnt, bremst. Früher wollte ich sie loswerden – heute sehe ich ihren Wert. Sie schützt mich vor Schnellschüssen, zwingt mich zur Sorgfalt. Aber manchmal wendet sie alte Regeln auf neue Kontexte an: Halte dich lieber zurück, bevor du aneckst.
Gleichzeitig habe ich gelernt, dass die Lauten nicht automatisch die Starken sind. Viele stützen ihr Selbstbild auf Sicherheit im Außen – nicht auf Tiefe im Inneren. Sie wirken überzeugt, weil sie die Lücken nicht sehen. Diese Sicherheit ist oft performativ, nicht substanziell. Früher hat mich das verunsichert. Heute erkenne ich darin ein Muster, das Systeme stabil hält, aber Erkenntnis hemmt: Lautstärke bekommt Aufmerksamkeit – nicht automatisch Gewicht.
Der Weg zur Balance liegt also nicht im Gegenschlag, sondern im Gegenstehen.
Nicht lauter werden, sondern klarer.
Nicht recht haben wollen, sondern Orientierung bieten.
Klarheit ruhig vertreten, ohne sie zu rechtfertigen.
Ich habe begonnen, mich selbst anders zu führen – nicht gegen die Lauten, sondern gegen die eigene Unsicherheit.
Ich nenne das leise Autorität: Klarheit ohne Aggression, Wirkung ohne Lautstärke.
In meiner Arbeit als Coach begleite ich heute Menschen, die ähnlich ticken – analytisch, differenziert, mit einem hohen Anspruch an sich selbst.
Viele von ihnen kennen dieses Spannungsfeld zwischen Wissen und Zweifel.
Wir arbeiten daran, das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung zurückzugewinnen und Tiefe nicht länger als Nachteil zu sehen.
Denn in komplexen Systemen ist Differenzierung keine Schwäche – sie ist ein Kompass.
Haltung in der Praxis
In Gesprächen bedeutet das mehr als bloß Ruhe zu bewahren.
Es sind Grundhaltungen, die auch aus der systemischen Arbeit kommen –
nicht als Methode, sondern als Bewusstseinsform.
Fragen stellen, statt zu korrigieren
Wenn jemand eine fachlich falsche Aussage trifft, ist der Impuls zur Korrektur stark.
Doch Korrektur schließt sofort – Fragen öffnen.
Statt „Das stimmt so nicht“ hilft:
„Wie bist du auf den Punkt gekommen?“
„Welche Annahmen liegen dem zugrunde?“
So verschiebt sich das Gespräch von Recht haben zu gemeinsam prüfen.
Führung entsteht dabei nicht durch Argument, sondern durch Haltung.
Unterschiede sichtbar machen, ohne sie gegeneinanderzustellen
Das bedeutet, eigene Sichtweisen nicht als Widerlegung, sondern als Ergänzung anzubieten.
Zum Beispiel:
„Ich sehe das etwas anders, weil ich das System gerade aus einer anderen Perspektive betrachte.“
Oder:
„Ich verstehe, was du meinst – aus Anwendersicht ist das schlüssig. Wenn wir aber die Architektur mitdenken, ergibt sich ein anderer Effekt.“
So bleibt der Unterschied sachlich und beziehungsfähig.
Das Gegenüber behält sein Gesicht – und du deine Klarheit.
Den Raum halten, auch wenn andere ihn füllen wollen
Das ist die anspruchsvollste Übung. Raum halten heißt, präsent zu bleiben, ohne sofort einzugreifen oder dich zu verteidigen. Es ist der Moment, in dem du spürst: Jetzt wird es laut, schnell oder dominant – und du bleibst innerlich ruhig. Du wartest, bis die Energie sich entlädt, bevor du sprichst. Nicht aus Angst, sondern aus bewusster Steuerung. Wenn wieder dieselben Stimmen übernehmen, atme aus, lass sie reden – und dann:
„Ich würde gern noch einen Gedanken ergänzen, der bisher gefehlt hat.“
Ruhig, sachlich, nicht entschuldigend.
Das ist Raumhalten in Praxis: Autorität durch Präsenz, nicht durch Lautstärke.
Diese drei Prinzipien sind keine Kommunikationstechniken, sondern Formen von Selbstführung im Dialog.
Sie beruhen auf einem einfachen Grundsatz:
„Ich bestimme meine Reaktionszeit – nicht das System um mich herum.“
Schluss
Der Preis des Verstehens ist, mehr zu sehen, als man manchmal möchte.
Doch genau darin liegt auch der Wert – die Fähigkeit, Komplexität zu halten, ohne sie sofort aufzulösen.
Vielleicht ist das die eigentliche Reifeleistung:
dem Imposter zuzuhören, ohne sich von ihm führen zu lassen.
Leise klar bleiben, gerade dann, wenn es laut wird.